Frühgestört
sind alle meine Freunde
11.12.2004 - 19.12.2004
Dr. Udo Horak & Dr. Markus Wiest, Psychiater
In den frühen 1770er Jahren kommt es bei dem deutsch-österreichischen
Bildhauer Franz-Xaver Messerschmidt (1736 bis 1783)
zum Ausbruch einer psychotischen Krankheit und zum Bruch
mit Wien, der Stadt und der höfischen Kunstwelt. Seine
künstlerische Tätigkeit gilt von da an einem Projekt:
er widmet sich der Herstellung von lebensgroßen Büsten
ausschließlich männlichen Geschlechts, 69 sind
es bei seinem Tode. Meist gestaltet er grimassierende Gesichter,
Mimiken unter extremem Verformungsdruck, Fratzen, oszillierend
zwischen Selbstbildnis und Selbstexorzismus. Messerschmidt
war in einem noch traditionellen Sinne besessen: Zu genauerer
Erklärung angehalten, identifizierte er den Geist,
der ihm am stärksten zusetzte, als den Geist
der Proportion. Damit meinte er nicht eine Maßlehre
im herkömmlichen Verstand, sondern ein Wechselverhältnis
zwischen einer Körperreizung und der entsprechenden
Gesichtsreaktion. Durch die plastische Wiedergabe der korrekten
Mimik gab er seinem Widersacher zu verstehen, dass er dessen
Geheimnis besitze und dass er die Herrschaft über beides
zurückgewonnen habe: über das Gesicht und den
Körper.
Messerschmidt wurde von dem Wiener Psychoanalytiker und
Kunsthistoriker Ernst Kris 1932 wiederentdeckt. Die
Köpfe und die reichlich fließenden Schriftquellen
wertete er zu einer umfänglichen und subtilen Diagnose
aus, die als die erste wissenschaftliche Krankheitsakte
der Künstlergeschichte gilt. Schizophrenie vor dem
Hintergrund einer Sexualneurose lautete der Befund, der
vor allem in der Ursachenforschung nicht unwidersprochen
blieb.
1977/78 übermalt der österreichische Künstler
Arnulf Rainer (geb. 1929) die Messerschmidt-Köpfe,
die - bereits selbst in ihrer Mimik überzeichnet -
durch Rainer noch weiter in ihrem Ausdruck gesteigert werden.
2004 fotografieren Dr. Udo Horak, Facharzt für
Neurologie und Dr. Markus Wiest, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie an der Landesklinik
Teupitz, einem Fachkrankenhaus für Neurologie und
Psychiatrie, sich und 15 weitere Kollegen grimassierend.
Das tradierte Selbstverständnis im Verhältnis
von Arzt zu Patient wird bildnerisch hinterfragt in einem
Prozess der Selbsterfahrung. Es entstanden 18
s/w-Portraits aus der Psychiatrie, die das hierarchische
Muster und den Beobachterstandpunkt relativieren oder gar
invertieren.
Wir freuen uns auf eine ungewöhnlich hohe Psychiaterdichte
in der Koje nächst der Charité.
Frühgestört wird am 11.12.2004 von 18 - 21
Uhr!
|