Spieglein, Spieglein an der Wand

Gerhard Richter: Acht Grau - Deutsche Guggenheim Berlin
11.10.2002-03.01.2003

"Spieglein, Spieglein an der Wand. Wo sind die ungeduldigsten Besucher im ganzen Land?"

"Sagen Sie mal, ist das etwa alles?"
Der jungen Frau stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Verwirrt und geradezu desillusioniert verließ sie die Ausstellung.
Dabei hätte sie doch nur etwas Geduld investieren müssen. So aber hat sie alles verpasst, sie und viele andere. Schade drum.

Zugegeben macht Gerhard Richter es in seiner aktuellen Ausstellung Acht Grau in der Deutschen Guggenheim Berlin weder ihr noch den übrigen Besuchern zu leicht. Aber auch nicht wirklich schwer. Richter verlangt nach Zeit, nicht nach mehr, nicht nach weniger. Wäre sie geblieben, hätte sie feststellen können, dass Acht Grau keine Ausstellung ist, durch die man schon nach einer guten Viertelstunde mit Kennerblick marschiert; und dabei auf das Glück spekulieren kann, ernst genommen zu werden. Das war lustig mit an zu sehen, aber leider ist sie ja schon gegangen.

Natürlich sieht jeder zunächst nur acht, etwa drei auf fünf Meter große Glasflächen, die einen guten halben Meter in den Raum hinein ragen, fixiert an Atem beraubenden Edelstahlträgern. Nach vorne spiegeln sie monochrom, von hinten sind sie mit grauer Farbe emailliert.

Hier fängt es nun aber auch schon an, interessant zu werden. In Acht Grau trifft Richter mit unglaublicher Präzision das Grenzgebiet zwischen Architektur, Installation und Malerei. In Echtzeit verlieren die Grenzen dieser Gattungen ihre ohnehin nur noch theoretisch vorhandenen scharfen Konturen, können deshalb nicht mehr klar eingeordnet werden - und werden somit unsichtbar; eine zentrales Anliegen des Künstlers. Aber sie war ja schon weg, und hat's verpasst.

Genau so wie ihr entgangen ist, wie radikal Richter die kleine Ausstellungshalle von allem im Laufe der Jahre eingebauten Ballast hat befreien lassen. Alles weg, nur noch der blanke Raum. Sogar die milchglasigen Fenster wurden durch klare ersetzt, denn die Arbeit verlangt Tageslicht als Beleuchtungsquelle, und das mit gutem Grund. Durch das sich ständig verändernde Tageslicht verändern sich auch die Spiegelungen, und bringen Leben in die acht monochromen Flächen.
Warum auch immer scheint der Künstler hier überstimmt oder überzeugt worden zu sein, denn ab dem späten Nachmittag wird das Licht eingeschaltet - und setzt einen brutalen Schnitt. Aber das ist jetzt nicht mehr so wichtig, die Leute, die noch hier sind, haben das sicher bemerkt.

Richter erweißt sich trotz der fiesen Neonbeleuchtung einmal mehr als gewiefter Pokerspieler; seine Glasplatten gewinnen den Kampf zwischen Raum und Arbeit spielerisch. Sie sind nicht in genau gegenüberliegender Reihung angebracht, sondern nach links respektive rechts verschoben. Gerhard Richter zerbricht so die Mittelachse des Raumes, was eine konstant hohe Spannung erzeugt. Zudem sind die Halterungen der Platten verstellbar, und jede ist horizontal und vertikal in anderen Winkeln zum Raum gekippt. Läuft man umher und lässt den Blick schweifen, erzeugen diese sensiblen Kippungen ein derart permanentes Flirren stetig wechselnder Spiegelungen, dass einem schwindelig werden möchte.
Mit einer regelrechten Flutwelle an Eindrücken wirbelt Richter seine Besucher durch die Ausstellung, die mit Sicherheit zu den Besten gezählt werden muss, die wir in diesem jungen Jahrhundert bereits zu sehen bekamen.

Wer jetzt noch mit an Bord ist, erlebt die Arbeit auf ihrer Suche nach Antworten. Nach Antworten auf eine, ebenso schwierige wie simple Frage; was bedeutet Malerei? Richter knüpft an, an frühere Arbeiten wie die Installation 4 Glasscheiben aus dem Jahre 1967. In dieser Arbeit thematisiert Gerhard Richter die auch heute noch vielerorts gängige Metapher vom gemalten Bild als Fenster zur Welt. Der Blick wird durch die Rahmen der Glasscheiben gelenkt und bestimmt; das dahinter Geschehende wird zum momentanen Inhalt der Arbeit.

Bei Acht Grau treibt er dieses Spiel noch weiter. Die Flächen werfen den Betrachtern ein Abbild ihrer selbst und ihrer Umgebung zurück, und wechseln dabei ständig zwischen Abstraktion, Illusion und Imagination. Anders als herkömmliche Spiegel senden die grauen Glasplatten kein bloßes Abbild, sondern ein schemenhaftes Ebenbild. Das zufällige Kommen und Gehen erinnert an Richters verwischte Fotoarbeiten, während allerdings bei Acht Grau der flüchtige Augenblick eben so schnell verschwindet, wie er in Erscheinung trat. Durch diese Schnelligkeit, dieses ständige Neukomponieren, das immense Prisma an Spiegelungen und Blickmöglichkeiten wird Acht Grau mehr als ein Fenster zur Welt. Wird ein Fenster zu unserem tatsächlichen Verhältnis zur Welt.

Richter führt die Besucher dabei bewusst an der langen Leine. Noch nie hat er sich als polternder Lehrmeister aufgespielt, und wird sicher jetzt nicht damit anfangen. Wozu auch? Es hätte ja sowieso nichts gebracht. Sie war ja schon weg.
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