Törrööh! Ich bin's. Benjamin Blumfeld.

Blumfeld: Jenseits von Jedem

Mit Jenseits von Jedem liefern Blumfeld ein grandioses neues Album ab - und haben sich damit selbst überholt.

Fast ein bisschen alt sieht er aus, der Herr Distelmeyer.
Oder mindestens etwas mitgenommen.
Wovon, darüber kann nur spekuliert werden:
Vielleicht von den, allerspätestens seit Jenseits von Jedem, nervend gewordenen Fragen, was denn aus dem alten Blumfeld geworden sei?
Wegen der, von der Band selbst proklamierten Leichtigkeit, einfach nur Musik machen zu wollen und sich dabei auch noch selbst wohl zu fühlen?
Oder einfach vom Älterwerden?
Vielleicht wurde aber auch der Maskenbildner angewiesen, den Stress der Albumproduktion nicht aus den Gesichtern zu retuschieren.
"Ich steh zu mir, ich lebe gern!"

Was war das für ein Aufschrei! Bis wohin hätte man ihn hören können, wäre er tatsächlich geschrieen worden. Und das alles nach Old Nobody, dem Meilenstein in der Bandgeschichte und gleichzeitig drittem Studioalbum, erschienen 1999. Diese Album spaltete die Leute in zwei Lager, so wie keines davor und keines danach. "Erst jetzt kann man die ertragen," hauchten die einen, die eben auf schnuffige Schlagerfuzzis abfahren.
"Was is' denn das jetzt fürn Scheißdreck!" kam es aus der Ecke geschrieen, die Distelmeyer glatt verbieten würden, über die Liebe und das Leben zu schreiben, nachdem er doch so lange so schön bissig und politisch war.

Doch ist er das plötzlich nicht mehr?
Doch, natürlich ist er's noch. Da wurde kein rituelles Vorher - Nachher eingeleitet. Es gibt auch kein Blumfeld, das nur von Politik lebt, genauso wenig wie eines, dem Luft und Liebe genügen würden.
Seit Old Nobody ist Blumfeld das, was es eigentlich ist; nämlich zuhause hier und dort. Emotional und rational, fröhlich und traurig, schnell und langsam, Bauch und Kopf, Liebe und Hass.Da wurde nichts ausgeschöpft oder zu einem Ende gedrängt. Aber das ist doch eigentlich nicht zu schwer zu verstehen.
"Mach Dich frei - von allen falschen Zwängen!"

War Old Nobody noch eine sehr punktgenaue Landung, vor allem im Gefühl der Band - und auch in dem der Zeit - ist der Nachfolger aus dem Jahr 2001, Testament der Angst eine wesentliche zeitlosere Platte geworden. Und handelt von der Schwere, die auf dem eigenen Leben liegt; der Schwierigkeit, sich sich selbst zu stellen und dass reflektiertes Leben eben immer zuerst bei einem selbst beginnt.

Jenseits von Jedem ist nun ein noch deutlicheres Ja! zum Leben.
"Gib nicht auf - es kommt ein neuer Morgen
Lass es raus - den Schmerz und Deine Sorgen!"
singt Jochen Distelmeyer in ‚Neuer Morgen.'
Doch postuliert er damit kein lockeres "Geht schon irgendwie weiter, Alter!", sondern wünscht sich, uns und Allen die Kraft, zu Schmerz und Einsamkeit zu stehen.
Das viertelstündige Beinahe-Epos ‚Jenseits von Jedem' katapultiert Distelmeyer und die Band schon mal theoretisch in die Sphären der Ganz-Ganz-Großen. Gar mit Bob Dylan wird da verglichen.

Zunächst einmal scheint es sich allerdings um ein eng und weit verzweigtes Beziehungsnetz zu drehen. Kein hitzig-schwüles ‚Wer mit Wem', sondern ein komplexes ‚Wer wie zu Wem'. Ahab und Pinocchio, Cleopatra und Dracula, Jesus und Gott, Du und Ich. Weil Distelmeyer dabei fiktive und reale Beobachtung hauchzart miteinander verschmilzt, macht er auch als moderner Märchenerzähler eine gute Figur. Daneben spült sich Blumfeld mit diesem Stück endlich aus dem Rinnsal, aus dem heraus es immer um langweilige Erklärungen irgendwelcher Zustände gehen muss.

Warum, wieso, weshalb - Herrgott noch eins.
Jenseits von Jedem heißt nicht nur Jenseits von Allem, sondern zunächst einmal Jenseits von sich selbst. Jenseits des eigenen Wollens, des eigenen Könnens, des eigenen Müssens - das alles niemals nur eigen sein kann.
"Komm sag es allen: Wir sind frei
Es gibt kein Müssen und kein Sollen
Wenn wir nicht wollen"

So scheinbar fantastisch diese wahren Zeilen scheinen, so leicht kann es zu leben sein - so wie man will und wie es geht - und nicht nur wie man wollen soll. Wir müssen Blumfeld nach diesem Album noch mehr lieben als zuvor, wenn das möglich ist. Denn tatsächlich fängt hier große Kunst an, die eben wie die große Liebe, nur aus ihrer Unmöglichkeit lebt.


Album Jenseits von Jedem
Veröffentlichung am 1. September 2003

Single Wir sind frei
Veröffentlicht seit dem 4. August 2003

Erschienen bei ZickZack / WEA
Current
Archive
Preview
 
Concept
Wordmark
6.69 cbm
 
Self
Links
 
Contact
Apply
Webdesign: Stilkonzil, Berlin | Date: 01.08.2006
Top of the Page